Magistrat der Stadt Berlin 1809-1945
Scope and Content
Vorwort
A 2.3 Magistrat der Stadt Berlin 1809-1945
Die zweijährige Besetzung durch die Truppen Napoleons von 1806 bis 1808 führte weitgehend zum Zusammenbruch der bisherigen staatlichen und kommunalen Verwaltungsstrukturen (vgl. 2.2 Comité administratif). Das bürgerliche Zeitalter begann in Berlin formell mit der Einführung der 1808 erlassenen preußischen Städtereform am 1. April 1809. Kommunale und staatliche Aufgaben sollten getrennt und die Überlagerung von Justiz und Verwaltung beseitigt werden. Die Beschlussgewalt oblag der Stadtverordnetenversammlung, die vom 18. bis 22. April 1809 erstmals gewählt wurde, den Magistrat bildete und dem König drei Kandidaten für den Posten des Oberbürgermeisters vorschlug. Friedrich Wilhelm III. bestimmte Leopold von Gerlach zum ersten Oberbürgermeister von Berlin. Nach der formellen Auflösung des Comité administratif und des alten Magistrats fand am 6. Juli 1809 die Einführung der neuen Stadtbehörden mit einem feierlichen Einzug in das Berliner Rathaus und anschließendem Gottesdienst in der Nikolaikirche statt.
Eine bürgerliche Selbstverwaltung konnte allerdings nicht konsequent durchgesetzt werden. Berlin blieb unter der Aufsicht der preußischen Provinzialbehörden, namentlich - nach der kurz befristeten Existenz eines eigenen Regierungsbezirkes, zwischen 1816 und 1821 - von 1828 bis 1881 der Regierung Potsdam. Hinzu kamen die in Bezug auf die Stadt erheblichen Kompetenzen des unmittelbar dem preußischen Innenministerium unterstellten königlichen Polizeipräsidiums mit seinen orts- wie auch landespolizeilichen Aufgaben und der Ministerial-, Militär- und Baukommission. Faktisch übten diese beiden Behörden ab 1822 die Funktion einer "Regierung Berlin" aus (vgl. 4.1 Staatliche Behörden Preußens).
Dem nach wie vor kollegial arbeitenden Magistrat als Exekutivorgan in städtischen Angelegenheiten blieben die Angelegenheiten vorbehalten, die eigene Administration und fortwährende Lokalaufsicht nicht erforderten: Bürgerrechtsfragen, Grundeigentumsverwaltung, Gewerbe-, Handels-, Manufaktur- und Verkehrsangelegenheiten, sowie die Kontrolle des kommunalen Haushalts-, Kassen- und Rechnungswesens, Personalverwaltung und Beschwerdebearbeitung. Für eine Reihe von Spezialgebieten wurden gemischte Deputationen oder örtliche Kommissionen gebildet, die aus Magistratsmitgliedern, Stadtverordneten und Bürgerdeputierten bestanden. Derartige Gremien arbeiteten u. a. in Kirchen- und Schulangelegenheiten, im Armen- und Medizinalwesen, in Bau-, Forst- und Ökonomieangelegenheiten sowie auf den Gebieten des Feuerschutzes, der Nachtwache und der städtischen Beleuchtung.
Die Stellung der staatlichen Exekutivgewalt wurde in den nachfolgenden Jahren bedeutend gestärkt. Die Rechte der Stadtverordnetenversammlung wurden eingeschränkt, während zugleich durch das 1834 erlassene "Regulativ über das Geschäftsverfahren für den Magistrat von Berlin" die kollegialische Geschäftsführung abgeschafft wurde. Der Oberbürgermeister war nun Vorgesetzter der besoldeten und unbesoldeten Mitglieder und der Beamten des Magistrats. Diese Tendenz wurde durch die auf der preußischen Gemeindeordnung von 1851 basierende Stadtverfassung vom 23. Januar 1851 weiter konsolidiert. Die "Revidierte Städteordnung für die sechs östlichen Provinzen der Preußischen Monarchie" vom 30. Mai 1853 brachte eine weitere Einschränkung der städtischen Selbstverwaltung mit sich, da die Zusammensetzung des Magistrats sowie der Kommunaletat nunmehr zwingend durch die Regierung in Potsdam bestätigt werden mussten.
In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts begann Berlins Aufstieg zur Industriemetropole und zur Hauptstadt des späteren Deutschen Reiches. Durch die Eingemeindung von Randgebieten (vgl. 3. Bezirksverwaltungen und ihre Vorgängerbehörden), die Realisierung des Berliner Bebauungsplanes von James Hobrecht, die Gründung kommunaler Unternehmen und den Ausbau des Schul- und Krankenhausnetzes nahmen die Verwaltungsaufgaben bedeutend zu. Sichtbarer Ausdruck dessen waren der Neubau des Rathauses nach Plänen von Herrmann Friedrich Waesemann (1861-1869) und der Abriss der alten Zoll- und Akzisemauer (1867/68). In den neuen Stadtgebieten entstanden Fabriken und Mietskasernenkomplexe, durch die der Magistrat dem wachsenden Wohnungselend zu begegnen suchte. Um 1877 war Berlin Millionenstadt und zog beständig weitere Zuzügler an. Die besondere politische Stellung der Stadt brachte es aber mit sich, dass die Selbstverwaltungsrechte des Magistrats, beispielsweise in Bau- und Verkehrsfragen, in Berlin stets eingeschränkter blieben als in anderen preußischen Städten. Begünstigt durch die steigenden Steuereinnahmen verfügte die Stadtverwaltung über einen relativ hohen Etat, was wiederum fortschrittlichen Politikern und Fachleuten wie Karl Theodor Seydel, Arthur und James Hobrecht, Rudolf Virchow und Max von Forckenbeck eine moderne, auf die sozialökonomischen Bedürfnisse der Stadt ausgerichtete Kommunalpolitik erlaubte.
Mit dem 1. April 1881 bildete Berlin - auf der Grundlage der Provinzialordnung von 1875 - einen eigenen Stadtkreis und schied damit aus der Provinz Brandenburg aus. Die Regierungsfunktion wurde aber weiter vom Polizeipräsidenten ausgeübt, der damit faktisch die Position eines Regierungspräsidenten einnahm. Gleichzeitig blieben der Oberpräsident höchste Instanz in der Kommunalaufsicht und provinzialbrandenburgische Behörden für einzelne Verwaltungszweige zuständig, so dass die kommunale Selbstverwaltung weiterhin eingeschränkt blieb. Der Magistrat bestand aus 34 besoldeten und unbesoldeten (15) Mitgliedern, darunter mit besonderen Ämtern der Oberbürgermeister (vertreten durch einen Bürgermeister), der Kämmerer, zwei Stadtbauräte (für Hochbauten und Ingenieurbauten), zwei Stadtschulräte (für höheres Schulwesen und Gemeindeschulwesen) und ein Syndicus.
Die zunehmende Konkurrenz mit den benachbarten Städten und Gemeinden gestaltete sich zu einem wachsenden Hemmnis für die Verwaltungsarbeit. Zudem waren die Sprengel der staatlichen Verwaltungsbehörden und Gerichte anders geordnet als die Kommunalgrenzen, beispielsweise durch das Gerichtsverfassungsgesetz vom 16. September 1899 (das für Berlin zuständige Landgericht III erhielt Sitz in Charlottenburg) oder die Bildung des Landespolizeibezirks Berlin zum 1. Oktober 1900 (aus den Stadtkreisen Berlin, Schöneberg, Charlottenburg und Rixdorf). Eine Minimallösung wurde schließlich mit der Bildung des Zweckverbandes Groß-Berlin zum 1. Januar 1912 geschaffen.
Erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gelang eine grundlegende kommunalpolitische Reform mit dem "Gesetz über die Bildung der neuen Stadtgemeinde Berlin" vom 27. April 1920, das am 1. Oktober 1920 in Kraft trat und acht Städte, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke unter einer einheitlichen Verwaltung zusammenfasste. Der Magistrat setzte sich nun einschließlich des Oberbürgermeisters aus höchstens 30 Mitgliedern zusammen, die von der Stadtverordnetenversammlung auf zwölf (besoldete Magistratsmitglieder) bzw. vier Jahre (unbesoldete Magistratsmitglieder, deren Zahl auf mindestens zwölf festgesetzt war) gewählt wurden. Das Stadtgebiet wurde in 20 Verwaltungsbezirke eingeteilt, davon sechs auf dem Territorium von "Alt-Berlin". Dort regelten Bezirksversammlungen/Bezirksämter die Aufgaben, die nicht zentral durch den Magistrat gelöst wurden.
Mit dem "Gesetz über die vorläufige Regelung verschiedener Punkte des Gemeindeverfassungsrechts für die Hauptstadt Berlin" vom 30. März 1931 erfuhr die Stadtverfassung eine Novellierung. Der Oberbürgermeister übernahm nun einen stärkeren Anteil an Exekutivgewalt als Gemeindevorstand, begleitet von zwei Bürgermeistern als ständige Vertreter. Der Magistrat wurde personell verkleinert, die Zahl der hauptamtlich besoldeten Stadträte auf neun und der ehrenamtlich unbesoldeten auf sechs festgelegt. Die Stadtverordnetenversammlung verlor ihre Kompetenzen weitgehend an einen aus ihrer Mitte gewählten Stadtgemeindeausschuss mit 45 Mitgliedern. Die Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung und des Stadtgemeindeausschusses bedurften der Zustimmung des Magistrats.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten begann ab März 1933 eine Umbildung des Magistrats, indem zunächst alle SPD-Mitglieder von ihren Ämtern suspendiert wurden. Am 14. März bestellte das preußische Innenministerium Julius Lippert, den Fraktionsführer der NSDAP in der Stadtverordnetenversammlung, zum "Kommissar zur besonderen Verwendung beim Magistrat von Berlin". 1934 schied Berlin als Reichshauptstadt aus der Zuständigkeit des Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg aus und erhielt quasi den Status einer preußischen Provinz, die dem Staatskommissar der Hauptstadt Berlin unterstellt war. Stadtverordnetenversammlung und Stadtgemeindeausschuss wurden aufgelöst. Dem Staatskommissar stand für die kommunalen Aufgaben ein 45-köpfiges Ratsherrenkollegium zur Seite. Durch das "Gesetz über die Verfassung und Verwaltung der Reichshauptstadt Berlin" vom 1. Dezember 1936 (gültig ab 1. Januar 1937) erhielt der Staatskommissar in Anlehnung an das in der Provinzialverwaltung übliche Amt des Oberpräsidenten den Titel "Stadtpräsident", verbunden mit dem Amt des Oberbürgermeisters in Personalunion und eine Erweiterung der Zuständigkeiten (z. B. bezüglich des höheren Schulwesens). In der Praxis blieb es aber bei ständigen Kompetenzstreitigkeiten mit dem preußischen Innenministerium, der Bau- und Finanzdirektion (hinsichtlich des neuen "Gesamtbauplanes für die Reichshauptstadt") und dem Polizeipräsidenten (vgl. Abschnitt 4.1.). Die hinzukommenden ständigen Auseinandersetzungen Lipperts mit der Berliner Gauleitung der NSDAP führten zu seiner Einberufung zur Wehrmacht im Jahre 1940. Die kommunalpolitischen Geschäfte übernahm kommissarisch der Bürgermeister; den Stadtpräsidenten vertrat bis 1944 der Vizepräsident. Beide Funktionen übte Ludwig Steeg in Personalunion aus. Im Mai 1944 wurde erneut ein Regierungsbezirk Berlin gebildet, wobei dem Regierungspräsidenten der Reichshauptstadt ab 1. Dezember desselben Jahres auch die Bau- und Finanzdirektion angegliedert wurde. Diese Behördenfunktionen endeten nach der Befreiung Berlins und dem Einmarsch der alliierten Streitkräfte durch Beschluss des neuen Magistrats im Juli 1945.
Verweise:
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LAB A Rep. 001-01 Comité administratif
LAB A Rep. 001-02 Magistrat der Stadt Berlin, Generalbüro
LAB A Rep. 029 Regierung Berlin
LAB A Pr.Br.Rep. 030 Polizeipräsidium Berlin
LAB A Pr.Br.Rep. 042 Preußische Bau
und Finanzdirektion
LAB A Pr.Br.Rep. 057 Stadtpräsident der Reichshauptstadt Berlin
LAB A Rep. 031-050 Stadtbezirksverwaltungen
LAB B Rep. 001 ff. Senat von Berlin
LAB C Rep. 100 ff. Magistrat von Berlin (1945-1990)
BLHA Bestände der Provinzialbrandenburgischen Behörden 1815-1945
Literatur:
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Bericht über die Verwaltung der Stadt Berlin, hrsg. vom Magistrat der Stadt Berlin, für die Jahre 1829 bis 1840 (Berlin 1842); für die Jahre 1841-1850 (Berlin 1853); für die Jahre 1851-1860 (Berlin 1863).
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Übersicht über die Bestände des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Potsdam. Teil 2: Behörden und Institutionen in der Provinz Brandenburg 1808/16 bis 1945, bearb. von Lieselotte Enders, Gebhard Falk, Harriet Harnisch, Rudolf Knaack, Joachim Schölzel u. a., Weimar 1967 (= Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Bd. 5).
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