Senat von Berlin
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Vorwort
Berlin stand 1945 zwei Monate lang unter der ausschließlichen Kontrolle der sowjetischen Besatzungsmacht, da die Stadt allein von der Roten Armee erobert worden war. Noch vor dem Eintreffen der angloamerikanischen Truppenkontingente Anfang Juli 1945 stellte die aus dem Moskauer Exil zurückgekehrte Gruppe deutscher Kommunisten unter der Leitung des ehemaligen Reichstagsabgeordneten Walter Ulbricht ("Gruppe Ulbricht") den ersten Berliner Nachkriegsmagistrat zusammen, der von der sowjetischen Besatzungsmacht bestätigt wurde. Am 17. Mai 1945 begannen die einzelnen Magistratsabteilungen mit ihrer Arbeit, und am 19. Mai 1945 vollzog der sowjetische Stadtkommandant, Nikolai E. Bersarin, die offizielle Einführung des Magistrats in seine Tätigkeit. Sitz dieser Stadtregierung, die nach dem Eintreffen der westlichen Alliierten von der von den Besatzungsmächten gebildeten Alliierten Kommandantur beaufsichtigt wurde, war das ehemalige Gebäude der Städtischen Feuersozietät von Berlin in der Parochialstraße im Bezirk Mitte. An der Spitze des Magistrats stand der parteilose Architekt Arthur Werner. Zu den Magistratsmitgliedern zählten auch Karl Maron, Arthur Pieck und Otto Winzer aus der Gruppe Ulbricht, der frühere kommunistische Reichstagsabgeordnete Ottomar Geschke, der ehemalige Reichsminister und Zentrumspolitiker Andreas Hermes, der Chirurg Ferdinand Sauerbruch und der Architekt Hans Scharoun. Zwar war der ernannte Magistrat in parteipolitischer Hinsicht "pluralistisch" zusammengesetzt, die Schlüsselpositionen wurden aber von KPD- bzw. SED-Politikern eingenommen. Oberbürgermeister Arthur Werner sah sich in der Rolle eines parteipolitisch neutralen und allseitig loyalen "Stadtpräsidenten von Berlin" und beschränkte sich im Wesentlichen auf die Funktionen einer bürgerlichen Repräsentations- und Galionsfigur des Magistrats.
Erst die Stadtverordnetenwahlen vom 20. Oktober 1946 brachten die SED um ihre aus der kurzfristigen sowjetischen Alleinherrschaft herrührende gouvernementale Führungsrolle. Im neuen Magistrat, gemäß der von den Alliierten erlassenen Vorläufigen Verfassung von Groß-Berlin vom 13. August 1946 von allen Parteien beschickt, stellte die SED lediglich den 2. Bürgermeister und die Stadträte für Arbeit und für Städtische Betriebe. Die wichtigsten Positionen wurden von der SPD besetzt. Der Oberbürgermeister, der 3. Bürgermeister und sieben Stadträte gehörten dieser Partei an. Die CDU war mit dem 1. Bürgermeister und drei Stadträten vertreten. Die LDP stellte zwei Stadträte. Oberbürgermeister war der Sozialdemokrat Otto Ostrowski. Ferdinand Friedensburg (CDU) hatte das Amt des 1. Bürgermeisters inne. Heinrich Acker (SED), ein früherer SPD-Mann, war 2. Bürgermeister, die Sozialdemokratin Louise Schroeder, von 1919 bis 1933 Mitglied der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung bzw. des Deutschen Reichstags, 3. Bürgermeisterin.
Nach der Vorläufigen Verfassung wurden die Magistratsmitglieder von den Stadtverordneten für die Wahldauer der Stadtverordnetenversammlung gewählt. Der Magistrat galt als das oberste, leitende und vollziehende Organ und vertrat Berlin nach außen. Er war der Stadtverordnetenversammlung unbeschränkt verantwortlich. Die Stadtverordnetenversammlung konnte mit Zweidrittelmehrheit ihres gesamten Bestandes den Rücktritt des Magistrats verlangen, der somit wie eine Landesregierung auf das Vertrauen seines Wahlkörpers angewiesen war. Einzelne Magistratsmitglieder durften abberufen werden, wenn sie gegen den Eid verstoßen oder sich als völlig unfähig erwiesen hatten. Die Vorläufige Verfassung trug noch Züge einer Stadtgemeindeverfassung und lehnte sich an die Grundsätze der alten preußischen (echten) Magistratsverfassung an. Zwar hatte der Magistrat kein allgemeines Zustimmungsrecht mehr, aber sowohl die Stadtverordnetenversammlung als auch der Magistrat waren Beschlussorgan: Beschlüsse in den so genannten Beschlussfassungsangelegenheiten mussten von der Stadtverordnetenversammlung und vom Magistrat in Übereinstimmung gefasst werden. Die Stadtverordnetenversammlung konnte jedoch ein Veto des Magistrats mit Zweidrittelmehrheit überstimmen.
Nach knapp fünfmonatiger Amtszeit trat Oberbürgermeister Ostrowski aufgrund eines mit den Stimmen von SPD, CDU und LDP erfolgenden parlamentarischen Misstrauensvotums zurück. Er hatte - ohne Wissen seiner Partei - Verhandlungen mit der SED aufgenommen, um ein gemeinsames Arbeitsprogramm von SPD und SED zu vereinbaren. Gegen die Stimmen der SED wurde am 24. Juni 1947 der Sozialdemokrat Ernst Reuter, der im Herbst 1946 aus der türkischen Emigration zurückgekehrt war und im Berliner Magistrat das Dezernat für Verkehr und Versorgungsbetriebe übernommen hatte, zum Nachfolger gewählt. Er konnte aber sein Amt als Oberbürgermeister nicht antreten, da die sowjetische Seite in der Alliierten Kommandantur von ihrem Vetorecht Gebrauch machte und ihre Zustimmung verweigerte. Daraufhin fungierte Louise Schroeder als amtierende Oberbürgermeisterin.
1948 kam es zur Auflösung des Alliierten Kontrollrats für Deutschland. Auch die als Instrument gemeinsamer alliierter Berlin-Politik errichtete Alliierte Kommandantur geriet immer mehr in die sich verschärfende Ost-West-Konfrontation, und am 1. Juli 1948 ließ die sowjetische Besatzungsmacht verlautbaren, dass sie ihre Mitarbeit in diesem Gremium nicht fortsetzen werde.
Schließlich brach auch die gemeinsame Stadtverwaltung auseinander. Als am 6. September 1948 SED-Demonstranten das im sowjetischen Sektor gelegene Neue Stadthaus, wo die Stadtverordnetenversammlung residierte, stürmten, verlegte das Parlament seinen Sitz in den Westteil der Stadt. Die SED-Fraktion nahm an den Parlamentssitzungen nicht mehr teil. Im Oktober 1948 sah sich auch der Magistrat gezwungen, seine Sitzungen in die westlichen Sektoren zu verlegen.
Die SED berief am 30. November 1948 eine nicht durch Wahlen legitimierte "außerordentliche Stadtverordnetenversammlung" ein, die den Magistrat für abgesetzt erklärte. Ein neuer Magistrat unter Oberbürgermeister Friedrich Ebert (SED), Sohn des ersten deutschen Reichspräsidenten, wurde eingesetzt. Die sowjetische Militärregierung erkannte den neuen Magistrat als einzige rechtmäßige Stadtverwaltung an. Nach der administrativen Spaltung Berlins konnten die nach der Vorläufigen Verfassung für ganz Berlin vorgeschriebenen Stadtverordnetenwahlen am 5. Dezember 1948 nur in den drei Westsektoren durchgeführt werden. Die SED beteiligte sich nicht. Gleich nach diesen Wahlen, bei denen die SPD 64,5 Prozent der Stimmen erzielte, wählte noch die alte Stadtverordnetenversammlung Ernst Reuter einstimmig zum Oberbürgermeister. Dieser wurde dann am 14. Januar 1949 von der neuen Stadtverordnetenversammlung in seinem Amt bestätigt. Die Allparteienkoalition, nunmehr allerdings ohne die SED, bestand bis zum Tod Ernst Reuters im Jahre 1953 weiter. Seit den Wahlen 1950 verfügte die SPD allerdings nicht mehr über die absolute Mehrheit, und so war es nach Reuters Tod möglich, dass der Christdemokrat Walther Schreiber mit einer CDU/FDP-Koalition Stadtoberhaupt wurde.
Diese Position hieß seit dem Inkrafttreten der von der Stadtverordnetenversammlung verabschiedeten Verfassung von Berlin vom 1. September 1950, die Berlin für eine Gebietskörperschaft erklärte, die gleichzeitig ein Land und eine Stadt ist, nicht mehr "Oberbürgermeister", sondern "Regierender Bürgermeister von Berlin", die bisherige Stadtverordnetenversammlung hieß jetzt "Abgeordnetenhaus von Berlin", der Magistrat "Senat von Berlin". Der Senat bestand aus dem Regierenden Bürgermeister als Regierungschef, dem Bürgermeister als seinem Stellvertreter und höchstens 16 Senatoren. Ferner war festgelegt: Alle Mitglieder des Senats werden unmittelbar vom Abgeordnetenhaus gewählt. Der Regierende Bürgermeister, der zuerst zu wählen ist, schlägt dem Abgeordnetenhaus die Regierungsmitglieder vor. Das Abgeordnetenhaus kann den Senat oder jedes einzelne Senatsmitglied jederzeit abberufen, indem es ihm sein Vertrauen entzieht. Das Misstrauensvotum ist an die Zustimmung der Mehrheit der gewählten Mitglieder des Abgeordnetenhauses gebunden. Das Misstrauensvotum wird unwirksam, wenn die Abgeordneten nicht innerhalb von drei Wochen eine Neuwahl vornehmen. Dem Regierenden Bürgermeister steht die staatsrechtliche Vertretung Berlins zu. Der Regierungschef führt den Vorsitz im Senat und leitet seine Sitzungen. Er legt die Richtlinien der Regierungspolitik im Einvernehmen mit seinen Senatskollegen fest und muss sie zur Billigung der Volksvertretung vorlegen. Jedes Senatsmitglied leitet seinen Geschäftsbereich selbständig und in eigener Verantwortung innerhalb der Richtlinien der Regierungspolitik. Das Zweikammersystem der alten Magistratsverfassung wurde aufgegeben: Der Senat steht nicht als selbständige zustimmungsberechtigte Kammer neben dem Abgeordnetenhaus.
1954 erlangte die SPD bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus wieder die absolute Mehrheit. Auf der Basis einer großen Koalition von SPD und CDU bildete Otto Suhr (SPD) den Senat. Nach Suhrs Tod 1957 wurde Willy Brandt (SPD) Regierender Bürgermeister. Brandt bekleidete dieses Amt in wechselnden Koalitionen bis 1966, als er Bundesaußenminister und Vizekanzler wurde. Es folgte Heinrich Albertz (SPD) als Regierender Bürgermeister. Er schied 1967 nach heftigen Protestdemonstrationen anlässlich des Schah-Besuchs aus dem Amt. Sein Nachfolger wurde Klaus Schütz (SPD), der nach zehnjähriger Amtszeit wegen Affären und innerparteilicher Streitigkeiten 1977 zurücktrat. Es folgte Dietrich Stobbe (SPD), der sein Amt 1981 aufgab, nachdem seine Senatoren keine Mehrheit mehr im Abgeordnetenhaus gefunden hatten. Die SPD nominierte dann Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel für das Amt des Regierenden Bürgermeisters. Nach der Niederlage der SPD/FDP-Koalition bei den vorgezogenen Wahlen zum Abgeordnetenhaus wurde Vogel durch Richard von Weizsäcker (CDU) abgelöst, der zunächst mit einem Minderheitskabinett regierte. Von Weizsäcker blieb Regierender Bürgermeister, bis er 1984 zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Sein Nachfolger war Eberhard Diepgen (CDU), der bis 1989 das Amt innehatte. Regierender Bürgermeister wurde dann Walter Momper (SPD), der an der Spitze eines SPD/AL-Senats stand.
In seinem Beschluss Nr. 1348/60 vom 8. März 1960 hatte der Senat die Verwendung der Bezeichnung "Berlin (West)" dahingehend geregelt, dass die "rechtmäßigen Organe Berlins für sich in Anspruch nehmen können, dass sie für die ganze Stadt sprechen". Insofern sollte ohne besondere Unterscheidung nach West oder Ost von "Berlin" gesprochen werden. War eine Einschränkung auf die Westsektoren jedoch unumgänglich, war "Berlin (West)" oder "West-Berlin" zu verwenden.
Mit der Vereinigung Deutschlands endete der Viermächtestatus Berlins, die Gesamtstadt wurde ein einheitliches Bundesland. Am 9. Oktober 1990 konstituierte sich die Gesamtberliner Landesregierung von Senat und Magistrat. Am 2. Dezember 1990 fanden erstmals seit 1946 wieder Gesamtberliner Wahlen statt. Das neue Abgeordnetenhaus konstituierte sich am 11. Januar 1991, und am 24. Januar 1991 wählte es den für ganz Berlin zuständigen Senat. Es kam es zu einer großen Koalition aus CDU und SPD, und Diepgen wurde erneut zum Regierenden Bürgermeister gewählt.
Das erste Gesamtberliner Abgeordnetenhaus erstreckte die Verfassung, die 1950 im Westteil der Stadt in Kraft gesetzt worden war, auf ganz Berlin. Zuvor war sie dem Ereignis angepasst und mit einem Überarbeitungsauftrag versehen worden. Durch die Überarbeitung kam es zur jetzt geltenden Verfassung vom 23. November 1995, die in einer Volksabstimmung angenommen wurde.
Literatur:
Amtsblatt für Berlin, Jg. 1 ff., Berlin (West) 1951 ff.
Berlin. Jahresberichte des Senats 1947 bis 1958, hrsg. vom Magistrat von Groß-Berlin/ Senat von Berlin, 1948-1959.
Dienstblatt des Magistrats von Groß-Berlin, Berlin 1945-1951.
Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin, Jgg. 1951 ff., Berlin (West).
Die Sitzungsprotokolle des Magistrats der Stadt Berlin 1945/46. Teil I: 1945, bearbeitet und eingeleitet von Dieter Hanauske, Berlin 1995 (= Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin, Bd. 2/I).
Die Sitzungsprotokolle des Magistrats der Stadt Berlin 1945/46. Teil II: 1946, bearbeitet und eingeleitet von Dieter Hanauske, Berlin 1999 (= Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin, Bd. 2/II).
Die Stadtverwaltung. Zeitschrift des Berliner Magistrats für die Angestellten der städtischen Verwaltung, Jg. 1-4, Berlin 1946-1949.
Verordnungsblatt der Stadt Berlin, Jgg. 1-2, Berlin 1945-1946.
Verordnungsblatt für Berlin, 1950-1951, Berlin (West).
Wegweiser durch die Verwaltung von Groß-Berlin, hrsg. vom Magistrat, Berlin 1947.
Breunig, Werner: Verfassunggebung in Berlin 1945-1950, Berlin 1990 (= Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Bd. 58).
Hanauske, Dieter: "... als leuchtendes Signal für ganz Deutschland". Der Berliner Magistrat von 1945/46 als "antifaschistisch-demokratisches" Musterbeispiel? In: Berlin in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1999, S. 145-183 (= Jahrbuch des Landesarchivs Berlin).
Kotowski, Georg/Reichhardt, Hans J.: Berlin als Hauptstadt im Nachkriegsdeutschland und Land Berlin 1945-1985. Mit einem statistischen Anhang zur Wahl- und Sozialstatistik des demokratischen Berlin 1945-1985 (= Berliner Demokratie 1919-1985, Bd. 2), Berlin und New York 1987 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 70/2).
Ribbe, Wolfgang: Berlin 1945-2000. Grundzüge der Stadtgeschichte, Berlin 2002 (= Kleine Schriftenreihe der Historischen Kommission zu Berlin, H. 6).