Erbgesundheitsgericht Berlin

Identifier
A Rep. 356
Language of Description
German
Source
EHRI Partner

Scope and Content

Vorwort

LAB A Rep. 356 Erbgesundheitsgericht Berlin

1. Behördengeschichte
A. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN)

1924 schrieb Adolf Hitler in der Festungshaft in Landsberg: "Der völkische Staat ... muß dafür Sorge tragen, dass nur, wer gesund ist, Kinder zeugt. [...] Er hat die modernsten ärztlichen Hilfsmittel in den Dienst dieser Erkenntnis zu stellen. Er hat, was irgendwie ersichtlich krank und erblich belastet und damit weiter belastend ist, zeugungsunfähig zu erklären und dies praktisch auch durchzusetzen. [...] Wer körperlich und geistig nicht gesund und würdig ist, darf sein Leid nicht im Körper seines Kindes verewigen." Zu dieser Zeit stand in der Verfassung des Deutschen Reiches noch der Satz: "Die Mutterschaft hat den Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staates."
Nach der nationalsozialistischen ‚Machtübernahme' Januar 1933 wurde entsprechend der vielfach bekundeten Absichten mit Planungen für staatliche Maßnahmen zur zwangsweisen Sterilisierung begonnen, und am 14. Juli 1933 wurde ein ‚Erbgesundheitsgesetz' verabschiedet, das besondere Gerichte einführte, die Sterilisationen anordnen konnten. Diese ‚Erbgesundheitsgerichte' sollten aus einem Berufsrichter, einem Arzt und einem Gesundheitsbeamten bestehen und in jedem Landgerichtsbezirk eingerichtet werden. Als Oberinstanz sollten bei den Oberlandesgerichten ‚Erbgesundheitsobergerichte' geschaffen werden.
Beim Vorliegen folgender Krankheiten konnte Sterilisation beantragt werden: angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres (manisch-depressives) Irresein, erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere erbliche körperliche Missbildung. Anträge auf Sterilisation konnten bei den Gerichten durch Betroffene selbst, durch deren Vertreter, aber vor allem durch Ärzte bei Gesundheitsämtern oder Anstaltsleiter gestellt werden.
Das Gesetz trat am 1.Januar 1934 in Kraft. Im Lauf des Jahres wurden reichsweit die Erbgesundheitsgerichte und Gerichte aufgebaut und begannen umgehend mit der Arbeit. Ihre Tätigkeit begleitete eine breite Debatte der Fachöffentlichkeit. Ausgewählte Urteile wurden in der Zeitschrift ‚Deutsche Justiz' publiziert, es gab eine Serie von Durchführungsverordnungen, um die vielfältigen Probleme bei der Anwendung des Gesetzes zu regeln.
Die staatliche Zwangssterilisation wirkte als Signal für die Forschungsrichtung der ‚Erbhygiene' oder ‚Rassenbiologie'. In diesen Kreisen war es allgemeiner Standard, die Ausweitung der Gesetzesanwendung auf weitere Bevölkerungskreise zu fordern. Diese neue staatliche Gewaltmaßnahme strahlte in verschiedenste Bereiche aus und wirkte als Impuls für weitere Regelungen. Sterilisationen waren - so der amerikanische Medizinhistoriker Robert Jay Lifton - "der Dreh- und Angelpunkt der Nazi-Biokratie".
Es war aber nicht nur die Maßnahme der ‚Fortpflanzungsverhinderung' selber, die als Signal wirkte, es war die Ausgestaltung des unmittelbaren staatlichen Zwangs, die die Rechte der Betroffenen im Verfahren auf ein Mindestmaß beschränkte. Und diese Rechte konnten sie wegen vorhandener Behinderungen oder Unsicherheiten oftmals nur sehr eingeschränkt wahrnehmen. Die Erbgesundheitsgerichte waren "eine als Gerichtsverfahren getarnte medizinische Maßnahme", ein gesundheitspolitischer Gewaltakt, der von Juristen und Medizinern im Namen der vermeintlichen Verbesserung der Gesellschaft durchgeführt wurde.

B. Das Erbgesundheitsgericht Berlin

Das für Berlin zuständige Erbgesundheitsgericht (EGG) wie auch das Erbgesundheitsobergericht (EOG) wurden gemäß einer Bekanntmachung des Reichsministers des Innern vom 16.2.1934 beim Amtsgericht Charlottenburg angegliedert. Das Gericht war damit zwar für den Landgerichtsbezirk zuständig, aber organisatorisch gehörte es zum Amtsgericht Berlin.
Formal war das so geregelt, dass eine bzw. später vier Geschäftsstellen des Amtsgerichts als Kammern des Erbgesundheitsgerichts tätig waren. Das Gericht war damit technisch Teil des Amtsgerichts. "Der Umstand, dass dieses Gericht organisatorisch keine Selbständigkeit besitzt, hat für die Bezeichnung des Gerichts nach außen keine Bedeutung. Sie ist nur für den inneren Geschäftsbetrieb von Wichtigkeit." Das Gericht firmierte als Teil der Zivilgerichtsbarkeit, denn ihm wurden im reichseinheitlich gültigen Aktenplan der Justiz für die Erbgesundheitssachen die zivilgerichtliche Aktengruppe XIII zugeteilt. Daneben gab es auch ‚Ehegesundheitssachen', die die Ziffer XIV hatten.
Mit Verfügung vom 1. Juni 1934 wurde die Behörde im Gebäude des Landgerichts am Tegeler Weg 17 - 20 untergebracht, das das Amtsgericht Charlottenburg mitnutzte. Auf Wunsch des neuernannten Vorsitzenden, Amtsgerichtsrat Dr. Matzner, wurden für die zwei Geschäftsstellen 261 und 262 insgesamt fünf Räume belegt.

Mit Wirkung vom 1.Januar 1935 wurde eine dritte Kammer des EGG eingerichtet, die Abteilung 263. Sie agierte als bloße Entscheidungsinstanz, die anfallenden Büroarbeiten wurden von den bestehenden zwei Kammern miterledigt Die Zuständigkeiten der drei Kammern waren nach dem Alphabet geregelt: Abt. 261 hatte die Buchstaben A - H, Abt. 262 die Buchstaben Q-Z und die neue Abt. 263 erhielt die Buchstaben J - P.
1935 belegte das EGG insgesamt zwölf Räume. Im Dezember 1935 ist erstmals eine Geschäftsstelle 264 genannt. Mit Wirkung vom 1. April 1936 war die Zuständigkeit der Kammern folgendermaßen geregelt:
1. Kammer Geschäftsstelle 261 Buchstabe A - F
2. Kammer Geschäftsstelle 262 Buchstabe G - K
3. Kammer Geschäftsstelle 263 Buchstabe L - R
4. Kammer Geschäftsstelle 264 Buchstabe S - Z

Im Jahr 1938 waren in dem Gericht insgesamt 19 Arbeitskräfte tätig: 2 Justizsekretäre, 1 Justizassistent, 9 Justizangestellte und sieben Justizangestellte als Stenokräfte.

Die Ausweitung erbbiologischer Aufgaben bei den Gesundheitsämtern führte in manchen Bezirken zu einem Rückstau unerledigter Anträge, der durch Personaleinsparungen noch verstärkt wurde. Das Hauptgesundheitsamt beantragte daher beispielsweise 1938 eigens einen weiteren Arzt zur Antragsbearbeitung. Ab Kriegsbeginn sollten dann Neuanträge auf Sterilisierung nur noch bei "besonders großer Fortpflanzungsgefahr" gestellt werden und 1944 wurden Neuanträge ganz untersagt bzw. auf "besonders dringliche und klarliegende Fälle" beschränkt. In Berlin wurden nach diesem Erlass drei Geschäftsstellen des EGG geschlossen.

Das Fallaufkommen des Berliner EGG lässt sich anhand der Register ermitteln, die vollständig erhalten sind. Darin sind 21205 Verfahren aufgeführt. Dazu gehört auch ein Spezialregister der Abteilung 261 für 1945, das allein brandenburgische Fälle enthält.
Außerdem wurden noch zwischen 1936 bis 1939 von Abteilung 261 insgesamt 134 Ehegesundheitssachen verhandelt.

Demnach wurden beim Gericht in den elf Jahren seines Bestehens 21205 Anträge auf Erbgesundheitsverfahren registriert. Die größte Antragszahl bestand im ersten Jahr; sie wurde später nicht wieder erreicht. In den folgenden drei Jahren sank die Zahl tendenziell langsam ab. Nach Kriegsbeginn halbierte sie sich und blieb bis 1942 annähernd gleich, um dann noch weiter abzusinken.
Die Zahlen der einzelnen Kammern bzw. Geschäftstellen besagen allein etwas über das Fallaufkommen in der gewählten Aufteilung des Alphabets. Sie zeigen auch, dass die 4. Kammer erst ab 1936 arbeitete. Interessant ist, dass infolge des erheblichen Antragsrückgangs während des Kriegs schließlich 1945 die Registerführung in den Kammern zwei bis vier eingestellt wurde und allein noch in der 1. Kammer ein Register geführt wurde.

Für seine Arbeit richtete das Gericht einen umfangreichen Unterlagenapparat ein.

Die eingehenden Anträge auf Sterilisierung wurden in Registern aufgenommen und erhielten dadurch ihre Aktenzeichen, in der Form ‚Geschäftsstelle - XIII - Fallnummer / Jahresangabe', also beispielsweise "261 XIII 47/34". Die Register enthalten Aktenzeichen, Eingangsdatum des ersten Schriftstücks, anzeigende Stelle (Anstalt, Amtsarzt o.a.), Name und Geburtsdatum des Betroffenen, Krankheitsdiagnose, Daten von Antragsrücknahme oder Annahme oder Ablehnung durch das EGG und ebenso das EOG sowie Vermerke über eine eventuelle Aktenabgabe.
Die besondere Bedeutung der Register zeigt sich auch durch die im Krieg getroffenen Sicherungsmaßnahmen. Demnach sollten sie bei Dienstschluss oder bei Fliegeralarm in einen verschließbaren Schrank im Keller des Arbeitsgerichts gebracht werden. Der Raum befand sich neben dem Luftschutzraum des Gerichts. Ältere und wenig gebrauchte Register und die Sammelbände mit Beschlüssen blieben ständig in diesem Raum.

Alle eingehenden oder vom Gericht erstellten Schriftstücke wurden in Fallakten zu den einzelnen Personen abgelegt. Diese Fallakten enthielten die Anträge auf Sterilisation, Befragungsprotokolle, das Urteil des Gerichts und Hinweise auf die Durchführung der Sterilisation.

Außerdem wurden vom Gericht Entscheidungssammlungen angelegt. Darin wurden die Urteile chronologisch nach Sitzungsterminen abgelegt; sie waren jeweils durch alphabetische Listen erschlossen.

Als zusätzliches Hilfsmittel wurde vom Gericht eine Namenskartei zu den Fällen geführt, die als schneller Zugriff auf Aktenzeichen genutzt werden konnte. Dafür wurden Vordrucke eingesetzt, die das Reichsgesundheitsamt entwickelt hatte, und die dort kostenlos bezogen werden konnten.

Alle technischen Details, die für den Geschäftsbetrieb des Gerichts von Bedeutung waren, sowie die allgemeinen Informationen des Amtsgerichts an alle Geschäftsstellen wurden in sog. General- oder Sammelakten abgelegt. Sie hatten Aktenzeichen nach dem reichsweit gültigen Einheitsaktenplan der Justiz; im Allgemeinen war auf den Rundschreiben des Amtsgerichtspräsidenten bereits das entsprechende Aktenzeichen der Generalakten angegeben.

C. Das Erbgesundheitsobergericht Berlin

Das für Berlin zuständige Erbgesundheitsobergericht wurde entsprechend der Festlegung des Gesetzes beim zuständigen Oberlandesgericht für Berlin, dem Kammergericht Berlin, angesiedelt. Es war zuständig für die Erbgesundheitsgerichte Berlin, Cottbus, Frankfurt/Oder, Guben, Landsberg/Warthe, Neuruppin, Potsdam und Prenzlau.
Das EOG befand sich wie das EEG im Amtsgericht Charlottenburg am Tegeler Weg 17-20. Über seine Einrichtung und den Geschäftsgang sind keine Details überliefert. Generalakten sind keine vorhanden; vermutlich wurden keine geführt.
EOG und EGG arbeiteten in Registraturgemeinschaft: Die Entscheidungen und anderen anfallenden Stücke des EOG wurden in die vom EGG angelegten Fallakten jeweils zugeheftet.; eigene Fallakten wurden nicht angelegt. Beim EOG wurde lediglich eine Serie von Sammelakten mit Entscheidungen geführt.

Im Zuge allgemeiner Umorganisationen oder auch wegen kriegsbedingter Einsparungen kam es im Sprengel des EOG zu Veränderungen. Im Jahre 1944 beispielsweise wurde das EGG Potsdam aufgelöst und mit dem EGG Berlin zusammengelegt.
Die erhaltene Überlieferung der brandenburgischen Erbgesundheitsgerichte befindet sich im brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam im Bestand Pr. Br. Rep. 5N. Sie umfasst etwa 700 Akteneinheiten.

D. Brandenburgische Erbgesundheitsgerichte

Am 6. September 1944 gab der Reichsinnenminister einen Runderlaß zum ‚totalen Kriegseinsatz' heraus, der die Durchführung des GzVeN einschränkte: Neuanträge sollten nur noch in Ausnahmefällen gestellt werden, und es sollten die Erbgesundheitsgerichte weitgehend zusammengelegt werden. Infolgedessen wurden mit Verfügung vom 14. November 1944 ab Ende 1944 die Erbgesundheitsgerichte Meseritz, Cottbus, Guben, Frankfurt/Oder, Prenzlau, Neuruppin und Potsdam aufgelöst bzw. mit dem EGG Berlin zusammengelegt. Dazu wurden die örtlich jeweils noch vorhandenen laufenden Fallakten zentral in Berlin zusammengeführt und dort registraturtechnisch neu bearbeitet: Sie wurden bei der 1. Kammer in einem neuen Register erfasst und erhielten somit ein neues Aktenzeichen. Um diese Akten wurde - mit Metallklammern, ansonsten sind die Akten geheftet - ein neuer grüner Umschlag mit Vordruck des Berliner EEG geheftet, der das neue Berliner Aktenzeichen erhielt. Diese Fälle wurden in die Berliner Kartei aufgenommen.
Das Register der Abteilung I von 1945 ist damit ein zentraler Nachweis für im Jahr 1944 noch laufende Erbgesundheitsfälle von ganz Brandenburg und hat seine besondere Bedeutung durch die vollständige Erhaltung der mit übergebenen Akten. Die dadurch identifizierbaren brandenburgischen Sterilisationsakten vergrößern die dort bestehende Überlieferung um 60%.

Aufschlussreich sind die Register des Potsdamer EEG, die bei dieser Aktion mit abgegeben wurden. Anhand dessen lassen sich für dieses Gericht folgende Fallzahlen ermitteln:
1935 864
1936 778
1837 680
1938 300
1939 166
1940 114
1941 161
1942 181
1943 75
Gesamt 3370

Diese Register enthalten entsprechend dem allgemeinen Standard folgende Angaben: Aktenzeichen, Eingangsdatum des ersten Schriftstücks, anzeigende Stelle (Anstalt, Amtsarzt o.a.), Name und Geburtsdatum des Betroffenen, Krankheitsdiagnose, Daten von Antragsrücknahme oder Annahme oder Ablehnung durch das EGG und ebenso das EOG, Vermerk über eine eventuelle Aktenabgabe.
Sie sind zentrale Hilfsmittel bei der Ermittlung aussagekräftiger Fallakten, wenn keine Namen von Betroffenen bekannt sind.

E. Die Überlieferungsbildung

Es ist ein generelles Problem bei der Überlieferungsbildung aller Erbgesundheitsgerichte, dass Akten nach Beendigung der Fälle nicht im Gericht aufbewahrt wurden. Durch einen Erlass des Reichs- und Preußischen Innenministers vom 12. Mai 1934 war festgelegt worden, dass EGG-Akten und Berichte über erfolgte Sterilisierungen an das Reichsgesundheitsamt abgegeben werden sollten. Diese Entscheidung wurde am 28. März 1935 geändert: Nun sollten "ab dem 1. April 1935 die Gerichtsakten dem für den Wohnort des Unfruchtbargemachten zuständigen Gesundheitsamt zur Aufbewahrung" übersandt werden. Wie der Büroleiter des EGG, Achilles, im Januar 1937 in einem Bericht notierte, würden die Akten des EGG "nach Beendigung des gerichtlichen Verfahrens an die Gesundheitsämter endgültig abgegeben [...], um dort das Fundament der Erbkartei zu bilden. Diese Einrichtung, die für die Zukunft große Bedeutung erlangen wird, führt dazu, die äußere Gestaltung der Akten den späteren Erfordernissen anzupassen". Man achtete also darauf, so wenig Aufkleber, Stempel oder Beschriftungen wie möglich auf den Deckeln anzubringen, um Platz für "statistische Zeichen und erbkarteiliche Vermerke" zu haben. Belege für die durchgeführte Versendung von Akten sind zahlreichen Aktenlisten in den Generalakten Nr. 45580 und 45581. Demnach wurde die Überlieferung auf sämtliche Gesundheitsämter Berlins, die Ämter der Kreise Niederbarnim, Osthavelland und Teltow und an andere Stellen systematisch verteilt. Das Gericht behielt für seine Arbeit lediglich die Register (Nr. 45583 - 45643), die Namenskartei und die eigens angelegten Sammelakten mit Entscheidungen (Nr. 41702 - 45651).
Die Zahl der beim Gericht entstandenen Fallakten kann anhand der Register des EGG genau ermittelt werden. Demnach registrierte das Gericht in den elf Jahren seines Bestehens 21205 Erbgesundheitsfälle.

Diese Überlieferung war bei Kriegsende zum Großteil auf die Gesundheitsämter der Stadt und der näheren Umgebung verstreut. Vermutlich waren nur noch die Fallakten der letzten ein bis zwei Jahre in Charlottenburg vorhanden.
Nach Kriegsende sind die in den Berliner Amtsgebäuden lagernden Altakten am Ort geblieben; sie wurden von den Nachfolgebehörden zunächst weiter verwahrt. Inwieweit darunter EGG-Akten waren, und inwieweit Teile der Überlieferung in der direkten Nachkriegszeit entfremdet oder vielleicht auch später noch vernichtet wurden, ist nicht bekannt.

F. Die Bestandsrekonstruktion

Abt 1954 wurden im Westteil der Stadt von verschiedenen Bezirksämtern Altakten an das Landesarchiv Berlin abgegeben, worunter dann auch Gesundheitsamtsakten und dabei auch EGG-Unterlagen waren. Entsprechend der abgebenden Stellen wurden diese Unterlagen im Archiv in verschiedene Reposituren eingearbeitet und durch Karteien oder Listen erschlossen.
Das Vorhandensein von Sterilisationsakten im Landesarchiv war bekannt: In den einzelnen Serien wurde wiederholt recherchiert, wobei allerdings der Unterschied zwischen tatsächlichen Gerichts- und korrespondierenden Gesundheitsamtsakten (zu denselben Personen!) nicht bewusst war. Die Zersplitterung der Serien sowie die fehlende Differenzierung zwischen den Ämtern und dem EGG machte die Recherchen zu Sterilisierungsfällen sehr aufwändig.

Angesichts dieser Lage wurde entschieden, den Bestand Erbgesundheitsgericht archivalisch zu rekonstruieren - obwohl diese Überlieferung streng genommen in dieser Form als Registratureinheit in der Behörde so zu keiner Zeit bestanden hatte.

Dazu mussten die Gerichtsprovenienzen im Haus zuerst identifiziert werden. Folgende Sterilisationsüberlieferungen befanden sich 1997 im Landesarchiv:

1. Gesundheitsamt Tiergarten Rep. 202 Acc. 420 Nr. 1 - 786
Am 31. Mai 1954 wurden vom Gesundheitsamt Tiergarten Fallakten an das Landesarchiv übergeben. In dieser 787 Stücke umfassenden Serie waren regelmäßig Verfahrensakten des Erbgesundheitsgerichts in die zugehörigen Fallakten des Gesundheitsamts eingelegt worden. Im Zuge von Notstandsarbeiten war dieser Bestand als Nr. 1 -786 des Bestands Rep. 202 Bezirksamt Tiergarten erschlossen worden.

2. Bezirksamt Zehlendorf Rep. 210/2 Acc. 1112 Nr. 672 (1) - (240)
Am 25. März 1963 waren in einer größeren Abgabe des Bezirksamts Zehlendorf, Gesundheitsamt auch 132 EGG-Fallakten abgegeben worden. Die Abgabe wurde entsprechend einer im Landesarchiv zu der Zeit öfter praktizierten Methode als eigene Nummernserie unter einer Hauptnummer signiert (Rep. 210/2 Nr. 672) und im Findbuch des Bezirksamtsbestandes aus Datenschutzgründen nicht einzeln nachgewiesen worden.

3. Amtsgericht Neukölln Rep. 46 Acc. 2768 Nr. 6375-7546
Am 25. Juni 1981 wurden vom Amtsgericht Neukölln insgesamt 1172 Erbgesundheits-Fallakten abgegeben. Diese Accession wurde zum überwiegenden Teil in einer eigenen Namenskartei erschlossen. Ein Teil der Abgabe war nicht bearbeitet.

4. Gesundheitsamt Wilmersdorf, Beratungsstelle für Erb- und Rassenhygiene Rep. 209 Acc. 3305
Aus einer Abgabe des Bezirksamts Wilmersdorf vom 6. Juni 1985 waren aus der Überlieferung des Gesundheitsamtes insgesamt 150 Fallakten des EGG aussortiert worden, die dann 1988/1989 im Anschluss an die Charlottenburger Überlieferung dem Bestand Amtsgericht Charlottenburg Rep. 42 hinzugefügt worden waren, wo sie die Nummern 45652 - 45800 erhielten. Sie waren wie diese durch eine Namenskartei und ein nach EGG-Aktenzeichen geordnetes Findbuch erschlossen.

5. Amtsgericht Charlottenburg Rep. 42 Acc. 3693 Nr. 41702 - 41811; 43849 - 45801
Am 27. Oktober 1987 sind vom AG Charlottenburg insgesamt 2413 Bände Akten abgegeben worden. In dieser Abgabe waren große Teile der Überlieferung des EGG enthalten, und zwar Einzelfallakten, Sammelakten mit Entscheidungen, Register und Generalakten. Sie waren im Zusammenhang mit einer weiteren Abgabe durch eine Namenskartei und ein nach EGG-Aktenzeichen geordnetes Findbuch erschlossen worden.

Damit waren 1996 insgesamt fünf Fallaktenserien des EGG im Landesarchiv, die alle in eigenen Findmitteln erschlossen waren.
Die Bestandsbildung wurde ermöglicht durch die Erarbeitung einer neuen Tektonik des Landesarchivs und die damit verbundenen weitgehenden Umstrukturierungen bei den Justizbeständen. Bedingt durch die Entwicklung des Landesarchivs in diesen Jahren - die Verteilung auf mehrere Standorte, der Neubau und der Umzug - konnte sie jedoch nur in Etappen erfolgen; bei den einzelnen Aktenserien erfolgten diese Arbeiten teilweise parallel.

Nach der Identifizierung der verschiedenen Aktenserien des Gerichts wurden 1997 als erster Bearbeitungsschritt die oben aufgeführten Positionen 3-5 aus den bisherigen Beständen entnommen und magazintechnisch zusammengelagert, wobei wegen der nicht umgestellten Findmittel die Bestellung weiterhin noch nach den Altsignaturen erfolgen musste.

1998 wurden dann 229 Fallakten zu den Namen S-Z, die aus der Accession 2768 vom Amtsgericht Neukölln stammten und bisher unbearbeitet geblieben waren, von Herrn Jürgen Sprau signiert und erschlossen. Aus technischen Gründen konnte diese Bearbeitung zuerst nur auf Kartei erfolgen
Im Jahre 1999 wurden die Akten der Serie Gesundheitsamt Tiergarten Rep. 202 Acc. 420 Nr. 1 - 786 einer Behandlung zur Schimmelbekämpfung unterzogen. Anschließend wurden aus dieser Serie die EGG-Akten, die fallweise in die Gesundheitsamtsakten eingelegt waren, entnommen und als eigene Serie formiert.
In diesem Jahr wurden im Zuge der Umzugsvorbereitung alle Bestandsteile durch Umsignierung endgültig aus ihren Altreposituren herausgelöst. Sie wurden mit der Repositurnummer A Rep. 356 neu signiert und geschlossen umkartoniert, so dass der Bestand Erbgesundheitsgericht damit magazintechnisch schon zusammengeführt war. Bei diesem Schritt wurden die jeweiligen Aktennummern in der neuen Provenienz beibehalten, um das Identifizieren von Altsignaturen zu erleichtern.

Im Zuge eines Beständeaustausches mit dem Landeshauptarchiv Potsdam im Jahr 2000 wurde der Splitterbestand Erbgesundheitsgericht Berlin Pr. Br. Rep. 5N Nr. 1-15 nebst Findkartei an das Landesarchiv abgegeben und zum Bestand dazu signiert.

Damit setzt sich der Bestand folgendermaßen zusammen:

Nr. 6375 - 7812 Fallakten Neukölln 1438
Nr. 41702 - 41811 Sammelakten mit Entscheidungen des EGG 110
Nr. 43849 - 44146 Fallakten Charlottenburg 298
Nr. 44147 - 44601 Fallakten brandenburgische EGG 455
Nr. 44602 - 45523 Fallakten Charlottenburg 922
Nr. 45524 - 45582 Generalakten 59
Nr. 45583 - 45587 Register EGG Potsdam 5
Nr. 45588 - 45645 Register 1. - 4. Kammer 58
Nr. 45646 - 45651 Sammelakten mit Entscheidungen des EOG 6
Nr. 45652 - 45801 Fallakten Wilmersdorf 150
Nr. 45802 - 46285 Fallakten Tiergarten 484
Nr. 46286 - 46409 Fallakten Zehlendorf 124
Nr. 46410 - 46424 Fallakten vom BLHA Potsdam 15
Nr. 46425 - 46427 Fallakten, einzeln 3
Nr. 46428 - 46438 Fallakten Zehlendorf - Auswärtige 8
Nr. 46439 - 47343 Fallakten Charlottenburg 905
Nr. 47344 - 47347 Fallakten, einzeln 4

Die damit vorhandene Überlieferung umfasst neben Generalakten und Entscheidungssammlungen 4894 Fallakten, von denen sich 4439 auf Berlin beziehen. Das sind knapp 21 % des ursprünglich einmal vorhandenen Fallbestandes von EGG und EOG.

G. Inhaltliche Prinzipien der Neuordnung

Im Jahr 2001 und 2002 wurden durch Frau Petra Behr alle vorhandenen Altkarteien der Teilbestände in AUGIAS eingegeben. Zugleich wurde durch Herrn Stefan Gross die aus dem Bezirksamt Tiergarten stammende Aktenserie umsigniert und zum Bestand genommen.
Im Jahr 2003 wurden die General- und die Sammelakten vom Bestandsbearbeiter neu erschlossen.
Gleichzeitig wurden durch Frau Jolanta Bak und Frau Edyta Osinski die Angaben zu ca. 2000 Fallakten vervollständigt, indem sie anhand der Original-Namenskartei des EGG die Angaben zum Geburtsdatum und die Registratursignaturen ermittelten.
2004 wurden durch diese Daten vom Bearbeiter in die Datenbank eingetragen. Für sämtliche Akten wurden, falls erforderlich, Schutzfristen festgelegt und vermerkt. Die Akten Nr. 45802 - 46285 (aus Tiergarten) wurden vollständig neu erfasst.
2010 wurden bei der Bearbeitung der Überlieferung der Beratungsstelle für Erb- und Rassenhygiene des Gesundheitsamts Charlottenburg dort jeweils eingelegte Akten des Erbgesundheitsgerichts festgestellt; diese Serie wurde neu zum Bestand genommen und anschließend nachverfilmt.

Bei der Neubearbeitung der Akten wurden folgende Daten aufgenommen bzw. ergänzt:
1. Signatur
2. Altsignatur
3. Name der/des Betroffenen
4. Geburtsdatum
5. Beginnjahr der Akte
6. Aktenzeichen
7. Filmnummer

Auf die Erhebung weiterer Daten wurde verzichtet, weil das die erneute Einsichtnahme in sämtliche Akten erfordert hätte, wogegen die jetzt vorhandenen Angaben anhand der Namenskartei ergänzt werden konnten.
Aus diesem Grund wurde auch die sonst übliche Angabe der ‚Laufzeit' der Akte (Anfangsjahr - Endjahr) durch das leicht zu ermittelnde Beginnjahr ersetzt, und das auch aus inhaltlichen Gründen: Oft haben diese Akten nur eine kurze Laufzeit von 6 bis 12 Monaten, und ansonsten kann man davon ausgehen, dass die Akten spätestens 1945 enden bzw. abbrechen.

Akten anderer Erbgesundheitsgerichte
Die Rekonstruktion orientiert sich nicht ausschließlich an der Provenienz EGG Berlin, sondern berücksichtigt auch die zuständigkeitshalber nach Berlin abgegebenen einzelnen Fallakten anderer Gerichte, beispielsweise der EGG Potsdam, Guben, Bielefeld. Dem liegt das Prinzip des letzten Wohnsitzes zugrunde, nachdem die Akten verschickt wurden.

Die 1944 an das EGG Berlin abgegebenen ‚Restunterlagen' der brandenburgischen EGGs sind ebenfalls im Bestand verblieben, da sie 1945 zur Registraturgemeinschaft EGG-EOG dazu gefügt wurden; ein Abtrennen hätte auch ein weiteres Zersplittern der hier immanenten EOG-Überlieferung bedeutet.

Im Bestand mit enthalten ist auch die Überlieferung des Erbgesundheitsobergerichts Berlin. Diese besteht aus den Nummern 45535 und 45646 - 45651 und enthält nach Sitzungsterminen abgelegte Entscheidungen des EOG. Da das EOG die Aktenzeichen des EGG weiterbenutzte und beide Gerichte formal wie inhaltlich eng zusammenarbeiteten, wurde entschieden, diese Kleinüberlieferung nicht abzusplittern, sondern sie im Verbund mit dem EGG zu bewahren. Sie wurde in einen eigenen Klassifikationspunkt gefasst.

Zur abschließenden Sicherung der neugebildeten Repositur wurde der Bestand 2003 und 2004 sicherungsverfilmt.

Die Neubearbeitung des Bestandes erleichtert jetzt wesentlich die Nutzung.
1. Die Gerichtsüberlieferung kann, soweit sie noch vorhanden ist, erstmals im Provenienzzusammenhang benutzt werden. Damit entfällt auch das aufwändige Recherchieren in mehreren parallelen Findmitteln.
2. Die gesamte Erschließung liegt in elektronischer Form vor und kann damit, sobald die technischen Möglichkeiten bestehen, auch ortsunabhängig recherchiert werden.
3. Die Akten können komplett auf Film vorgelegt werden, so dass Nutzung und Reprographierung ohne Beanspruchung der Originale erfolgen können.

H. Hinweise zur Benutzung

Wonach wird gesucht?

Nach bekannten Personen: Wenn das Findbuch bzw. die Datenbank keine Fallakte nachweist, kann über die Kartei des EGG geprüft werden, ob zu einer Person ein Verfahren lief. In diesem Fall ist ein Aktenzeichen angegeben werden, das die Zugehörigkeit zu einer Kammer des EGG bzw. Geschäftsstelle angibt, sowie das Jahr der Antragstellung. Mit diesen Angaben kann anhand der Namenslisten in den Sammelakten der Gerichtsbescheid ermittelt werden.
Ist nur ein Aktenzeichen bekannt, kann anhand der Register der Name des Betroffenen ermittelt werden; mit diesem Namen verfährt man dann wie oben angegeben.

Nach Wohnorten: Da die Register die anzeigenden Stellen regelmäßig nachweisen, können bestimmte Wohnbereiche so am einfachsten ermittelt werden.

Nach anzeigenden Stellen: Die anzeigenden Stellen sind in den Registern tabellarisch aufgelistet.

Nach Diagnosen: Eine schnelle Übersicht über bestimmte Diagnosen kann anhand der Register gewonnen werden. Geht es um die Diagnosen im Verhältnis zu den Entscheidungen der Gerichte, so ist am einfachsten durch die Entscheidungssammlungen eine Übersicht zu bekommen.

Nach Gutachtern: In den Unterlagen gibt es keinen systematischen Gutachternachweis. Hinweise kann man in den Geschäftsakten finden (meist im Zusammenhang mit Auslagenabrechnungen). Ansonsten müssen die Akten einzeln durchgesehen werden.

Nach der Gerichtsbesetzung: Die Zusammensetzung des Gerichts geht regelmäßig aus dem Urteilstext hervor und kann für größere Zeitabschnitte am sichersten aus den Sammelakten entnommen werden. Teilweise geht sie auch aus den Geschäftskalendern hervor.

Nach Details des Gerichtsbetriebs: Die Generalakten des Gerichts sind nahezu vollständig vorhanden. Generalakten wurden bei allen Amtsgerichten geführt und waren nach einem zentralen Ablagesystem aufgebaut. Sie dienten als Ablage für sämtliche generellen Regelungen des Justizbetriebs und enthalten deshalb nicht nur spezifische Unterlagen zum Erbgesundheitsverfahren. Insofern können sie auch als Ersatzüberlieferung für die weitestgehend verlorenen Generalakten der Berliner Gerichte aus dieser Zeit dienen. Sie zeigen wesentliche Details des Dienstbetriebs des Gerichts und geben auch Aufschluss über die Struktur der Zusammenarbeit mit anderen Erbgesundheitsgerichten.

Da die Fallakten des EGG zu einzelnen Personen angelegt wurden, gelten sie nach § 8 Abs. 3 des Berliner Archivgesetzes (ArchGB)als personenbezogenes Archivgut. Derartiges Schriftgut wird vom Gesetzgeber besonders geschützt. Betroffene können solche Akten jederzeit einsehen oder andere zur Einsichtnahme ermächtigen. Für alle übrigen Interessierten gilt für die Akten eine Sperrfrist von 10 Jahren nach dem Tod des/der Betroffenen oder von 90 Jahren nach der Geburt oder von 70 Jahren nach der Entstehung der Akten, wenn kein Geburtsdatum feststellbar ist.
Wenn es "im überwiegenden öffentlichen Interesse liegt", können diese Fristen nach § 8 Abs. 4 ArchGB auch verkürzt werden, aber nur, "wenn durch geeignete Maßnahmen gegenüber der Nutzerin oder dem Nutzer sichergestellt ist, dass schutzwürdigen Belange der Betroffenen nicht beeinträchtigt werden."

I. Korrespondierende Bestände

LAB A Rep. 042-08 Gesundheitsamt Steglitz, Beratungsstelle für Erb- und Rassenhygiene
LAB A Rep. 037-08-01 Gesundheitsamt Charlottenburg, Beratungsstelle für Erb- und Rassenhygiene
LAB A Rep. 038-08 Gesundheitsamt Wilmersdorf, Beratungsstelle für Erb- und Rassenhygiene

J. Literatur

Bock, Gisela, Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986 (Westdeutscher Verlag)
Lifton, Robert Jay, Ärzte im Dritten Reich, Stuttgart 1988 (Klett-Cotta)
Müller, Ingo, Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, München 1989 (Droemersche Verlagsanstalt)
Friedlander, Henry, Der Weg zum NS-Genozid, Von der Euthanasie zur Endlösung. Berlin 1997 (Berlin-Verlag)
Fürstenberg, Doris, Aber gegen die Bezeichnung Erbkrankheit wehren wir uns. Die Beratungsstelle für Erb- und Rassenhygiene im Gesundheitsamt Steglitz, in: Steglitz im Dritten Reich. Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus in Steglitz, Berlin 1992 (Edition Hentrich), S.16-61.
Luchterhandt, Martin, Die Akten der Beratungsstelle für Erb- und Rassenpflege im Bezirk Charlottenburg. In: Evangelische Kirche in Berlin Brandenburg. Archivbericht Nr. 8, Berlin 1998, S.34-38.


Berlin, Januar 2005 / November 2015 Dr. Martin Luchterhandt

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