Kriegsblindenschule Geheimrat Dr. Silex

Identifier
A Rep. 062
Language of Description
German
Source
EHRI Partner

Scope and Content

Vorwort

A Rep. 062 Kriegsblindenschule Geheimrat Silex

1. Institutsgeschichte
Die 1914 im Vereinslazarett der St. Maria-Victoria-Heilstätte von dem dortigen Chefarzt Dr. Paul Silex eingerichtete Hilfestelle für Kriegsblinde entwickelte sich durch private Spenden und Zuwendungen des Kriegsministeriums zu einer besonderen Schule. Sie unterstand der Aufsicht des Magistrats. 1936 wurde sie der städtischen Berufsschule für Blinde angeschlossen.

1.1. Zur Organisation der Blindenfürsorge in Berlin

Der 1. Weltkrieg verlieh den mit der Betreuung von Blinden verbundenen Aufgaben neue Dimensionen.
War bis dahin die Auffassung vorherrschend, die Aufgaben der Blindenbetreuung seien von Fürsorgevereinen und der allgemeinen Armenfürsorge zu tragen, sah sich der Staat jetzt zu stärkerem Engagement aufgefordert, denn der Kreis von Erblindeten erweiterte sich durch die Kriegsfolgen um Menschen, die mitten in der Ausbildung oder im Berufsleben standen und oftmals eine Familie zu versorgen hatten.
Die daraus erwachsenen Anforderungen an Schulung, Berufsausbildung, Versorgung und Betreuung sowie Arbeitsvermittlung ließen sich nicht mehr der Armenfürsorge unterordnen, sondern drängten nach einer aktiveren Sozialpolitik und zu neuen Methoden der individuellen Berufsfürsorge, um einen Wiedereinsatz in einem erlernten oder verwandten Berufe zu ermöglichen.
Das Problem der Arbeitsvermittlung wurde ab 1920 von der Abteilung für die Kriegsblinden bei der Hauptfürsorgestelle für die Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen der Stadt Berlin gemeinsam mit der Abteilung Schwerbeschädigtenfürsorge des Landes-Wohlfahrts- und Jugendamtes zu bewältigen versucht. Im Zusammenwirken dieser Behörden und der verschiedensten Fürsorgeeinrichtungen gelang es, einer verhältnismäßig hohen Anzahl erblindeter Menschen eine Arbeit zu vermitteln.
1924 war die Ausgestaltung der öffentlichen Wohlfahrtspflege eine wichtige Aufgabe der Länder und Provinzen, sowie der Stadt- und Landkreise geworden. In Berlin unterstand ab April 1925 die Blindenfürsorge der Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene beim Landeswohlfahrts- und Jugendamt.
Staatliche Bemühungen zur Hebung des Lebensstandards der Betroffenen, wie Fahrpreisermäßigungen, Befreiung von Rundfunkgebühren, Steuererleichterungen, ermäßigte Eintrittspreise etc. wurden mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus aufgehalten.
Seit 1933 erhielten Juden keine Unterstützung mehr, "nichtarische" Blinde wurden teilweise von den gewährten Vergünstigungen ausgeschlossen und für die "Durchführung des Gesetzes zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses (wurden) die erforderlichen Maßnahmen getroffen". (1)
Die Auswirkungen des 2. Weltkrieges verschärften das Problem der Betreuung von erblindeten Menschen erneut und da die Blindenfürsorge mit Kriegsende zusammengebrochen war, musste sie sich unter den veränderten Verhältnissen neu organisieren. Die Einrichtungen der Blindenfürsorge waren in großem Umfang zerstört oder beschädigt. Die Vermögenswerte der Blindenorganisationen wurden treuhänderisch verwaltet, da die Weiterführung dieser Organisationen, die meist unter nazistischer Leitung gestanden hatten, entsprechend bestehender Vorschriften nicht möglich war. An ihre Stelle traten neubegründete Blindenorganisationen, die mit den staatlichen Stellen zusammenarbeiteten.
Die amtliche Blindenfürsorge lag im Sommer 1945 bei der Versicherungsanstalt Berlin, Hauptabteilung Berufsfürsorge für Arbeitsbehinderte bzw. bei dem dort gebildeten Blindenausschuss, der im November 1946 in den Beirat für Blindenfragen beim Magistrat von Groß-Berlin umgewandelt wurde. Dieser Blindenbeirat wurde 1951 im Rahmen der Übergabe der Funktionen der Versicherungsanstalt Berlin an den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund aufgelöst. (2)

1.2. Zur Geschichte der Kriegsblindenschule "Geheimrat Silex"
In dem Fürsorgenetz für Erblindete aus staatlichen Stellen, Versicherungsträgern, Blindenanstalten und -schulen, Selbsthilfeorganisationen der Blinden sowie privaten und kirchlichen Fürsorgevereinen nahm die Kriegsblindenschule Geheimrat Silex eine hervorragende Stellung ein.
Bereits zu Beginn des 1. Weltkrieges war die medizinische Behandlung von im Krieg erblindeten Soldaten notwendig geworden. In Berlin wurde diese Aufgabe im Vereinslazarett St. Maria-Victoria-Heilstätte in der Karlstraße 29 wahrgenommen, wo sich im November 1914 fünf Kriegsblinde in der Behandlung des Chefarztes Paul Silex befanden. Sein Ziel war es, "die Kriegsblinden schon während der Behandlung im Lazarett zu geistiger Tätigkeit (anzuregen), um sie wieder für das Leben empfänglich zu machen und sie aus ihrer Gleichgültigkeit aufzurütteln". (3) Er begann in den Räumen des Lazaretts gemeinsam mit der blinden Lehrerin Betty Hirsch im selben Monat mit einem privaten Unterricht für diese Soldaten. In den kommenden vier Jahren unterstützte das Lazarett diese Unterrichtsbemühungen mit der Bereitstellung von weiteren Räumen, so dass die Zahl der Schüler beträchtlich anwachsen konnte. Finanziert wurde die Ausbildung mittels privater Spenden und an Oktober 1917 auch mit Zuwendungen aus dem Kriegsministerium. Im Frühjahr 1918 war die Zahl der bedürftigen Soldaten so angestiegen, dass das Kriegsministerium beschloss, in der Mittelstraße eigens ein "Reservelazarett Kriegsblindenschule" einzurichten, in dem die Schule mehrere Räume mietete.
Aufgrund der durch das Kriegsende bedingten nachfolgenden Veränderungen in den Militärbehörden wurde das Lazarett wieder von der Kriegsblindenschule getrennt und die Verletzten in das Garnisonslazarett in der Scharnhorststraße verlegt. Die Schule, die inzwischen je nach Kapazität auch zivile Späterblindete ausbildete, musste ihr Domizil räumen und erhielt vom Reichsarbeitsministerium Räume im Gebäude des Reichsarbeitsamtes in der Luisenstraße zur Miete überlassen, das nach Auflösung des Kriegsministeriums ab Oktober 1921 auch die finanzielle Unterstützung fortführte. Nach der Verteilung der Fürsorgepflicht auf die Länder 1924 mussten wiederum die Räume in der Reichsbehörde aufgegeben werden; im November 1922 erfolgte der Umzug in das Städtische Schulgebäude Am Georgenplatz 18.
Paul Silex zog sich im Frühling 1923 wegen Überlastung von der offiziellen Mitarbeit in der Schule zurück und konzentrierte sich auf seine ärztliche Tätigkeit, wirkte aber ehrenamtlich weiterhin umfangreich im Dienste der Schule.
Die Inflation brachte der Einrichtung enorme finanzielle Schwierigkeiten, da sowohl die Zuschüsse des Reichsarbeitsministeriums als auch die privaten Zuwendungen ausblieben und nur mit finanzieller Unterstützung der USA konnte die Schule erhalten werden.
Der Unterricht begann mit dem Erlernen des Lesens und Schreibens der Punktschrift und wurde je nach Voraussetzungen um das Erlernen einer Kurzschrift erweitert. Dadurch wurden die Voraussetzungen für das Maschineschreiben geschaffen und zahlreiche Schüler in die Lage versetzt, Schreibmaschineschreiben als Beruf ausüben zu können. Die Schule ermöglichte es außerdem, Erblindeten Musikunterricht zu geben, vorwiegend denjenigen, die über Vorkenntnisse verfügten, so dass sie Chancen einer beruflichen Perspektive als Organist oder Berufsmusiker bekamen.
Von Beginn ihrer Tätigkeit an bemühte sich die Kriegsblindenschule in einer eigenen Werkstatt um die Ausbildung der Verletzten in verschiedenen, bis dahin auch ungewöhnlichen Berufen. Die traditionell festgelegten Tätigkeitsfelder auf bestimmte Handwerke konnten erweitert werden, wobei die Lehrenden sich auf das optische Erinnerungsvermögen ihrer Schüler stützen konnten.
Besondere Verdienste erwarb sich die Einrichtung in den 20er Jahren mit der Ausbildung von Erblindeten zu Fabrikarbeitern. Die Möglichkeit einer dauernden Beschäftigung in der Industrie und im Gewerbe eröffnete für die Betroffenen wieder Möglichkeiten, für sich und ihre Familien sorgen zu können und trug außerdem dazu bei, die Isolation der Blinden zu durchbrechen.
Mit Unterstützung aus den Kreisen der Landbesitzer gelang es der Kriegsblindenschule, frühere Landarbeiter und Landwirte wieder zu einer Tätigkeit in der Landwirtschaft zu befähigen.
Weiterhin wurden Postbeamte, Masseure, Aktenhefter, Stenotypisten und Maschineschreiber ausgebildet, die dadurch die Möglichkeit der beruflichen Reintegration bekamen.
Wegen der Schwerpunktsetzung der Ausbildung für den Bürodienst wurde die Schule später auch als Blinden - Handelsschule bezeichnet.
In dem Maße, wie durch den wachsenden Zeitabstand die Notwendigkeit der Ausbildung für Kriegsblinde des 1. Weltkrieges nachließ, wurde die Ausbildung ziviler Blinder verstärkt.
Frau Betty Hirschschied 1933 aus der Schule aus und ging 1934 ins Exil nach England. (4) Die Silex-Handelsschule wurde 1936 der Städtischen Berufsschule für Blinde angeschlossen (5) und dem verbliebenen Lehrkörper 1937 ein Eintritt in die NSDAP nahelegt, dem die Mehrzahl der Lehrer folgte. (6)
In den ersten Monaten nach Ausbruch des Krieges wurde die Silex-Handelsschule durch einen Vertrag zwischen der Berliner Stadtverwaltung (Dezernat für Handelsschulen) und der Wehrmacht wieder mit der Umschulung der durch den Krieg erblindeten Soldaten betraut und dem Reservelazarett 132 angeschlossen. (7) Dieses Lazarett (dann als Nr. 102) wurde 1943 nach Forst/Lausitz verlegt, wovon auch die Silex-Schule mit Inventar und Lehrkräften betroffen war. Im Februar 1945 war aufgrund des Vorrückens der sowjetischen Truppen eine erneute Verlegung notwendig - das Lazarett zog nach Bärnau in der Oberpfalz und auf ausdrückliche Anordnung der Berliner Stadtverwaltung wurde auch die Schule überführt. Die amerikanische Militärregierung nutzte die Einrichtung weiter als Umschulungslazarett für Kriegsblinde im Bereich des Landes Bayern. Im März 1945 erfolgte wiederum auf Anweisung Berliner Stellen ein Umzug von zwei Lehrern und einem großen Teil der Schreibmaschinen und Materialien nach Wurzbach in Thüringen. (8)
Dort wurden im Sommer 1946 noch 30 Umschüler unterrichtet (9); dennoch wurde die Schule 1948 geschlossen.
In Berlin bestand nach Kriegsende die dringende Notwendigkeit der Wiedererrichtung von Blinden-Bildungseinrichtungen, insbesondere im russischen Sektor der Stadt, da hier alle bestehenden Einrichtungen zerstört waren.
Frau Betty Hirsch war 1947 aus dem Exil nach Berlin zurückgekommen und bot sofort ihre Unterstützung bei der Blindenfürsorge an. (10) Im Herbst 1948 wurde das Inventar der Kriegsblindenschule aus Thüringen zurückgeführt und in Räume in der Danziger Straße 23 gebracht, wo sich eine städtische Berufsschule befand. Da jedoch die für eine Wiedereröffnung als Blindenwirtschaftsschule notwendigen Voraussetzungen, wie Lehrkräfte und Wohnräume für Schüler, vorerst nicht zur Verfügung standen, verzögerte sich die Verwirklichung dieses Projektes bis 1950. (11)
Die Blindengrundausbildung für Erwachsene begann am 05. Juni 1950 in der Wirtschaftsschule Prenzlauer Berg in der Dimitroffstraße 50 (auch Berufsvollschule für Wirtschaft) mit den Schreibmaschinen der Silex-Handelsschule. (12)

1.3. Biographische Angaben

Paul Silex
Paul Silex wurde am 20. März 1858 als Sohn eines Garteninspektors in Gorgast (Oderbruch) geboren.
Seine Kindheit verbrachte er in Küstrin, wo er auch das Gymnasium besuchte.
Nach dem Medizinstudium in Halle, Berlin und Breslau erwarb er mit Assistenzen an der Straßburger Augenklinik (1 Jahr) und in den 80er Jahren an der Universitäts-Augenklinik in Berlin bei Augenarzt Dr. Schweiger (13 Jahre) Erfahrungen für seine spezielle ärztliche Tätigkeit.
1883 promovierte Paul Silex zum Dr. med. und gründete eine Poliklinik für Augenkranke. Seit 1886 war er als ehrenamtlicher Augenarzt für die Stadt Berlin tätig, d.h. er behandelte kostenlos von der Stadt zugewiesene mittellose Patienten.
Der Habilitation 1890 folgte 1897 die Berufung zum außerordentlichen Professor; 1914 die Ernennung zum Geheimen Medizinalrat.
Bis zu seinem Lebensende hatte Paul Silex die Leitung der Augenstation im St. Maria-Victoria-Krankenhaus inne.
Seine Mitarbeit als Bürgerdeputierter in der Deputation für die städtische Blindenpflege und seine Tätigkeit als Vorsitzender des Fürsorgeausschusses der Deutschen Kriegsblindenstiftung zeugen vom Engagement für die betroffenen Menschen.
Paul Silex starb am 20. Januar 1929 in Berlin.

Betty Hirsch
Betty Hirsch wurde am 15. Januar 1874 in Hamburg geboren. Als Mitbegründerin, Leiterin und seit 1923 Inhaberin der Kriegsblindenschule hat sie durch ihren beispielhaften Einsatz für die Interessen der erblindeten Menschen hohes Ansehen genossen.
Nach der Machtergreifung des Faschismus schied Betty Hirsch am 30. September 1933 aus der Schule aus und emigrierte 1934 nach England.
Sofort nach ihrer Rückkehr nach Berlin 1947 engagierte sie sich wieder für die Blinden in der Stadt; ihrem verdienstvollen Schaffen setzte ihr Tod ein Ende. Betty Hirsch verstarb am 08. März 1957 in Berlin.

2. Bestandsgeschichte

Der Bestand "Kriegsblindenschule Geheimrat Silex" wurde dem Stadtarchiv Berlin vom Deutschen Zentralarchiv in Potsdam im Rahmen von Zuständigkeitsabgrenzungen im Februar 1967 übergeben.
Die Akten stammen aus dem Reichsarchiv.
Der Bestand umfasste 1,2 lfm Archivgut aus der Zeit von 1914 bis 1933 und war ungeordnet.
Die Bestandsbearbeitung (13) ging von der vorgefundenen Beschriftung der Akten aus.
Die Akteneinheiten waren mit dem Stempel "Reichsarchiv" und einer gestempelten Signaturnummer versehen.
In der Kriegsblindenschule selbst war offenbar die Sachaktenführung die gebräuchliche Form der Registratur: die Akten sind geheftet - wahrscheinlich von Schülern der Schule im Rahmen der Ausbildung zum Aktenhefter - und die beschrifteten Akteneinbände außerdem mit einem Stichwort zum Akteninhalt in Blindendruckschrift versehen.
Bei der jetzigen Verzeichnung wurde die Signatur des Reichsarchivs beibehalte; die von der Schule vergebene stichwortartigen Aktentitel sind in der Regel erweitert worden.
Um in den Akten enthaltene hervorhebenswerte Dokumente zu erfassen, wurden entsprechende Enthält-Vermerke gefertigt.
Die im Findbuch gebotene Datierung erfasst die Laufzeit der Akte. Einen umfangreichen Teil des Bestandes bilden die sog. Fürsorgeakten. Sie wurden für die einzelnen Schüler im Hinblick auf ihre Arbeitsvermittlung angelegt und bestehen größtenteils aus Vermittlungsschreiben, Beurteilungen und Persönlichem Briefwechsel der Blinden mit Betty Hirsch.
Hervorzuheben ist, dass in zahlreichen Akten Briefe in Blindendruckschrift überliefert sind.


Enthält: Korrespondenz mit Blindenorganisationen und Fürsorgeeinrichtungen.- Verwaltung.- Ausbildung.- Arbeitsvermittlung.- Zöglinge.
Erschlossen: 364 [AE] 1.10 [lfm]
Laufzeit: 1915 - 1933 (1939)

Zahlreiche Akten sind auf Grund archivgesetzlicher Bestimmungen bzw. der EU-Datenschutz-Grundverordnung für die Benutzung befristet gesperrt. Eine Verkürzung der Schutzfristen kann auf Antrag erfolgen. Dazu bedarf es der besonderen Zustimmung des Landesarchivs.
Benutzung: Datenbank, Findbuch

4. Literatur- und Quellenverzeichnis

Bergmann, Ernst: Silex-Handelsschule für Blinde und Sehbehinderte, Festschrift zur 50-Jahrfeier der Silex-Handelsschule an der Blindenbildungsanstalt Berlin-Steglitz

Berlin, März 2007 Kerstin Bötticher

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