Bezirksamt Berlin-Charlottenburg, Gesundheitsamt Poliklinik für Erb- und Rassenpflege (1934 - 1945)
Scope and Content
Vorwort
A Rep. 037-08-01 Bezirksamt Berlin-Charlottenburg, Gesundheitsamt, Poliklinik für Erb- und Rassenpflege
1. Behördengeschichte
Die Poliklinik für Erb- und Rassenpflege war eine nachgeordnete Einrichtung des Reichsgesundheitsamtes beim Kaiserin-Auguste-Viktoria-Haus. [vgl. Begleitheft zur Ausstellung im Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin Berlin-Dahlem "Das Reichsgesundheitsamt im Nationalsozialismus - Menschenversuche und "Zigeunerforschung" zwischen 1933 und 1945"]
Die Nationalsozialistische Rassenhygiene (oder NS-Rassenhygiene) ist die zur Zeit des Nationalsozialismus betriebene Eugenik oder „Rassenhygiene“, die eine Radikalvariante der Eugenik darstellte. Die praktische Umsetzung erfolgte durch den Einfluss auf die Wahl der Geschlechts- und Ehepartner durch die Nürnberger Gesetze und Eheverbote, auf die Zwangssterilisation bei verschiedenen Krankheitsbildern und Bevölkerungsgruppen, durch Zwangsabtreibungen bis zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, beispielsweise durch die so genannte Kinder-Euthanasie.
Die Nationalsozialisten wollten durch eine pronatalistische Politik den Geburtenrückgang in den Griff bekommen und die „Gebärleistung“ der deutschen Frau steigern. Dabei waren nur Kinder „rassisch wertvoller“ Frauen erwünscht.
Neben repressiven Maßnahmen setzte das Regime auf finanzielle Anreize, um „rassisch wertvolle“ Frauen zur Reproduktion zu bewegen. Kinderreiche Ehepaare wurden steuerlich begünstigt und finanziell unterstützt.
Einen weiteren Anreiz stellte das Angebot eines Ehestandsdarlehens dar. Seit 1933 konnten Heiratswillige, die den rassischen und sozialen Qualitätsanforderungen genügten, ein Darlehen in Höhe von bis zu 1000 RM beanspruchen. Neben der Erleichterung von Eheschließungen und Haushaltsgründungen sollte das Darlehen auch für mehr Kinder pro Ehe sorgen: Die Darlehensschuld verminderte sich pro Kind um ein Viertel und galt nach vier Geburten als „abgekindert“.
Seit 1935 mussten Heiratswillige eine Gesundheitsprüfung ablegen. Ohne die Vorlage eines amtlichen Ehegesundheitszeugnisses durfte kein Standesbeamter eine Eheschließung vornehmen. Die Praxis sah allerdings anders aus: die Gesundheitsämter waren nicht in der Lage, alle Paare, die das Aufgebot bestellten, zu untersuchen, so dass sich die Untersuchungen auf „Verdachtsfälle“ beschränkten.
Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 betraf Anstaltsinsassen, kranke, behinderte und für „schwachsinnig“ erklärte Menschen, besonders aus ärmlichen Verhältnissen (und vor allem aus Bezirken, die in der Weimarer Republik die Kommunisten gewählt hatten, so Michael Burleigh in Die Zeit des Nationalsozialismus), „Asoziale“ und Menschen, in deren Familie psychische Krankheiten vorkamen, und konnte für diese die Sterilisation bedeuten. Es wurde eine Meldepflicht für Ärzte eingeführt, das heißt mögliche Erbdefekte mussten bei den Gesundheitsämtern angezeigt werden. Der Hausarzt sollte ein „Hüter am Erbstrom der Deutschen“ sein. Die Entscheidung, ob eine Person sterilisiert werden sollte, lag bei den insgesamt 225 neu eingerichteten Erbgesundheitsgerichten, denen 18 Erbgesundheitsobergerichte als Berufungsinstanz übergeordnet waren, und die auch ohne Zeugenbefragung und in Abwesenheit des Betroffenen nur auf Grund eines Antrages eine Sterilisation anordnen konnten.
http://de.wikipedia.org/wiki/Nationalsozialistische_Rassenhygiene
Aufgrund des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN)", in Kraft getreten am 01. Januar 1934, mussten Ärzte ihre Patienten zur Sterilisation vorschlagen, wenn sie von als erblich angesehenen Krankheiten und damit von deren genetischer "Minderwertigkeit" Kenntnis hatten. Dies geschah in Form einer Anzeige beim staatlichen Gesundheitsamt. Perfiderweise und zum Zwecke der Verschleierung waren zu allererst die Betroffenen selbst "antragsberechtigt". Gleiches taten die Leiter psychiatrischer Anstalten; sie überließen die Antragstellung den Amtsärzten, zumal der größte Teil ihrer Anstaltsinsassen zu diesem Zeitpunkt bereits der Sterilisation zugeführt worden war.
Die eingehenden Anzeigen wurden Gutachtern im Gesundheits- und Jugendamt vorgelegt und die Betroffenen dorthin vorgeladen, im Bedarfsfalle auch polizeilich vorgeführt. Verbunden waren damit Befragungen im familiären und sozialen Umfeld dieser Menschen. Entschieden wurde über den Antrag in den 181 "Erbgesundheitsgerichten" und "Erbgesundheitsobergerichten", angesiedelt bei den Amtsgerichten, in denen wiederum Ärzte als Gutachter und als Beisitzer beteiligt waren. Die Verfahren waren nicht öffentlich und dauerten aufgrund der bereits feststehenden Gutachterentscheidung oft nur wenige Minuten.
Zu den Geisteskrankheiten kamen mehr und mehr "soziale Auffälligkeiten" als Grund für die Annahme einer Erbkrankheit. Bei alledem war es nicht nötig, eine Erblichkeit nachzuweisen; es genügte, dass die Kriterien als erblich definiert waren.
Im Oktober 1939 gab es ein auf den 01. September 1939 zurückdatierten Befehl Hitlers. Dies war weder ein Gesetz noch ein unumgehbarer Befehl, reichte in der Folge jedoch als Grundlage für die Tötung Tausender von psychisch Kranken im Rahmen der Euthanasieaktion T4. Sämtliche Patienten mit Schizophrenie, Paralyse, Epilepsie, Schwachsinn, Encephalitis oder Huntingtonscher Chorea sowie kriminelle Geisteskranke oder über fünf Jahre dauernd in Anstaltsverwahrung befindliche Personen waren zu melden.
[http://www.aerzteblatt.de - Möhrle, Alfred: Der Arzt im Nationalsozialismus: Der Weg zum Nürnberger Ärzteprozeß und die Folgerungen daraus]
2. Bestandsgeschichte
Einzelne Akten des Bestandes wurden 2009 in Augias 8.1. verzeichnet.
Dem ging eine erste namentliche Erfassung für ca. 4900 Akten voraus, wobei die überwiegende Anzahl der Akten die Antragstellung auf ein Ehestandsdarlehen umfasst. Des weiteren gibt es noch ca. 2100 Akten die derzeit nur nummerisch erfasst sind, darin sind sowohl Anträge auf Ehestandsdarlehen, Anträge Verleihung Ehrenpatenschaft der Stadt Berlin und Anzeigen/Anträge zur Verhütung erbkranken Nachwuchses enthalten.
Der Bestand setzt sich zusammen aus Einzelfallakten und einer Personenkartei.
Die Akten der Anträge auf Ehestandsdarlehen beinhalten im wesentlichen folgende Dokumente: Stammtafel bzw. Sippenbogen, Untersuchungsbogen, Personalbogen für Bewerber um Ehestandsdarlehen, Prüfbogen zur Eheeignung.
Der Bestand umfasst 7110 [AE] 82.50 [lfm] über einen Zeitraum von 1934 - 1944.
Die Benutzung erfolgt über Findmittel und Datenbank.
Zahlreiche Akten sind auf Grund archivgesetzlicher Bestimmungen bzw. der EU-Datenschutz-Grundverordnung für die Benutzung befristet gesperrt. Eine Verkürzung der Schutzfristen kann auf Antrag erfolgen. Dazu bedarf es der besonderen Zustimmung des Landesarchivs Berlin.
Der Bestand wird wie folgt zitiert: LAB A Rep. 037-08-01 Bezirksamt Berlin-Charlottenburg, Gesundheitsamt Beratungsstelle/Poliklinik für Erb- und Rassenpflege, Nr. …
3. Literatur- und Quellenverzeichnis
http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv: Anahid S. Rickmann: „Rassenpflege im völkischen Staat. Vom Verhältnis der Rassenhygiene zur nationalsozialistischen Politik“, Dissertation, Universität Bonn, 2002
Kühl, Stefan 1997: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt, New York (Standardwerk zum Thema)
Meyer, Beate: "Jüdische Mischlinge" Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933-1945. - Dölling u. Galitz (1999)
Margret Kampmeyer; Cilly Kugelmann; Marie Naumann: Tödliche Medizin: Rassenwahn im Nationalsozialismus, Jüdisches Museum, Berlin, Wallstein Verlag, 2009
Benoit Massin, Anthropologie und Humangenetik im Nationalsozialismus, in: Wissenschaftlicher Rassismus, Heidrun Kaupen-Haas, Christian Saller, Campus Verlag, März 1999
Peter Weingart, Jürgen Kroll, Kurt Bayertz, „Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland“, Suhrkamp 1988, S. 363
D. Obermann-Jeschke: Eugenik im Wandel. Kontinuitäten, Brüche und Transformationen. Eine diskursgeschichtliche Analyse. Münster 2008.
Rassenpolitik und Geschlechterpolitik im Nationalsozialismus, in: Geschichte und Gesellschaft, 19. Jahrgang / Heft 3, hrsg. v. Gisela Bock, Göttingen 1993.
Udo Benzenhöfer: Zur Genese des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses Klemm & Oelschläger, Münster 2006
Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Frauenpolitik und Rassenpolitik Opladen 1986
Hans-Christian Harten & Uwe Neirich & Matthias Schwerendt: Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reichs. Bio-bibliographisches Handbuch Akademie, Berlin 2006
Corinna Horban: Gynäkologie und Nationalsozialismus. Die zwangssterilisierten ehemaligen Patientinnen der I. Universitätsfrauenklinik heute. Eine späte Entschuldigung Herbert Utz, München 1999
Jochen-Christoph Kaiser & Kurt Nowak & Michael Schwartz: Eugenik. Sterilisation. „Euthanasie“. Politische Biologie in Deutschland 1895 - 1945. Eine Dokumentation Berlin 1992
Ernst Klee: "Euthanasie" im NS-Staat. Die «Vernichtung lebensunwerten Lebens» Fischer TB, Frankfurt 1985
Stefan Kühl: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt, New York, 1997.
Michael Ley: „Zum Schutze des deutschen Blutes…“. „Rassenschandegesetze“ im Nationalsozialismus Hg. Institut für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten. Philo, Bodenheim 1997
Gunther Link: Eugenische Zwangssterilisationen und Schwangerschaftsabbrüche im Nationalsozialismus. Dargestellt am Beispiel der Universitätsfrauenklinik Freiburg. Peter Lang, Frankfurt/M. u.a. 1999
Thomas Oelschläger: "... dass meine Tochter von diesem jüdischen Balg schnellstens befreit wird." Die Schwangerschaftsunterbrechungen des "Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" In: Christoph Kopke (Hg): Medizin und Verbrechen Klemm & Oelschläger, Münster 2001
Dorothee Obermann-Jeschke: Eugenik im Wandel. Kontinuitäten, Brüche und Transformationen. Eine diskursgeschichtliche Analyse. Edition DISS Bd. 19. Münster 2008.
Jürgen Peter: Der Einbruch der Rassenhygiene in die Medizin. Auswirkung rassenhygienischen Denkens auf Denkkollektive und medizinische Fachgebiete von 1918 bis 1934. Frankfurt am Main 2004
Hans-Walter Schmuhl: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung lebensunwerten Lebens 1890-1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 75) Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1987
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Michael Schwartz: Sozialistische Eugenik. Eugenische Sozialtechnologien in Debatten und Politik der deutschen Sozialdemokratie 1890-1933 Hg. Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung (Reihe: Politik- und Gesellschaftsgeschichte Bd 42) Dietz Nachf., Bonn 1995
Weingart, Peter & Kroll, Jürgen & Bayertz, Kurt: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. 3. Aufl. Frankfurt 2001
http://www.ns-archiv.de/medizin/euthanasie/faksimile/